Prophetenmedaillon Seherin Sibylla Tiburtina
Prophetenmedaillon Seherin Sibylla Tiburtina

Die Seherin Sibylla Tiburtina

aus der Goldenen Legende des Jacobus de Voragine:

Papst Innocentius der Dritte schreibt: Da die römischen Senatoren ansahen die Gewalt Octaviani des Kaisers, wie er alle diese Welt unter der Römer Herrschaft hatte gebracht, da gefiel er ihnen also wohl, dass sie ihn ehren wollten als einen Gott. Nun erkannte der weise Kaiser, dass er ein sterblicher Mensch war, und wollte den Namen eines unsterblichen Gottes nicht an sich nehmen; aber da sie nicht aufhörten, ihn mit Ungestüm zu drängen, rief er Sibylla die Weissagin herbei, und begehrte durch ihre Kunst zu wissen, ob je ein Mensch auf Erden würde geboren werden, der größer sei als er. Nun geschah es, dass die Sibylle war allein in der Kammer des Kaisers bei ihrem Orakel; da erschien um Mittentag ein güldener Kreis um die Sonne, und mitten in dem Kreis die allerschönste Jungfrau, die stand über einem Altar und hielt ein Kind auf ihrem Schoß. Das wies die Sibylle dem Kaiser. Und Sibylla sprach zu ihm „Dies Kind, Kaiser, ist größer denn du, darum sollst du es anbeten.” Der Kaiser aber erkannte, dass das Kind größer sei als er, und opferte ihm Weihrauch; und wollte hinfort nicht mehr Gott geheißen werden.

Die Seherin Sibylla Tiburtina

VON DER ERSCHEINUNG DES HERRN

Die Könige waren aus dem Geschlecht Balaams (Bileams), darum folgten sie dem Stern nach. Denn ihr Ahnherr hatte geweissagt: „Es wird ein Stern aufgehen aus Jakob, und ein König aus Israel“ (Num 24,17). Chrysostomus setzt eine andere Sache, warum diese Könige bewegt wurden zu kommen; denn er schreibt in dem Originale über Matthäus, es werde auch erzählt, dass etliche Betrachter heimlicher Dinge „unter sich zwölf sonderliche Meister auswählten“, und wenn einer von ihnen starb, so setzte man seinen Sohn oder seinen nächsten Anverwandten an seine Statt. Die gingen alle Jahre einen Monat nach dem andern auf den Berg des Sieges, und wohnten da drei Tage, und wuschen sich und baten Gott, dass er ihnen den Stern erzeigte, den Balaam geweissagt hatte. Es geschah auf den Weihnachttag, dass sie auf dem Berge waren, da kam ein Stern über dem Berg herauf, der hatte die Gestalt eines wunderschönen Kindes, und ein Kreuz leuchtete ob seinem Haupt; und der Stern sprach zu ihnen „Gehet eilends hin in das jüdische Land, da findet ihr den König geboren, den ihr suchet“. Da bereiteten sie sich eilends zu der Fahrt. Wie aber das mochte sein, daß sie in also kurzer Zeit, in dreizehn Tagen, vom Aufgang der Sonne bis gen Jerusalem fuhren, das in der Mitte der Erde liegt, davon spricht Remigius, daß das himmlische Kind, das sie suchten, sie wol so schnell zu ihrem Ziele führen mochte. Anders spricht Hieronymus, daß sie ritten auf Tieren, die sind so schnell, daß sie an einem Tag so viel laufen als ein Pferd in dreien; davon haben sie den Namen dromedarius, das ist gesprochen Laufekraft, von dromos Lauf und ares Kraft.

Dieser Text stammt aus der Goldenen Legende des Jacobus de Voragine, mit Meisterwerken mittelalterlicher Kunst, neu herausgegeben von Christoph Wetzel. Herder 2007.

In den Erläuterungen des Herausgebers findet man die folgenden Hinweise zu dem obigen Triptychon und dessen Thema:

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Auf S. 29 befindet sich Rogier van der Weydens „Middelburger Altar“ (um 1445; Mitteltafel 91 x 89 cm; Flügel je 91 x 40 cm; Berlin, Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz, Gemäldegalerie). Das Triptychon basiert einerseits auf der Legenda aurea: Links weist die Sibylle von Tibur den römischen Kaiser Octavianus (Augustus) auf die Himmelserscheinung hin. Diese Ikonographie reicht bis weit in die Neuzeit: Beispiele aus dem 15. Jh. sind ein Kupferstich vom Monogrammisten „Meister E S“ und ein Gemälde vom „Meister der tiburtinischen Sibylle“ (Frankfurt, Städelsches Kunstinstitut); um 1580 schuf der französische Hofmaler Antoine Caron das Gemälde „Augustus und die Sibylle von Tibur“ (Paris, Musee du Louvre), und bereits 1528 entstand in der Kirche von Fontegiusta bei Siena das Fresko „Augustus und die Sibylle“ von Baldassare Peruzzi. Rechts zeigt Rogier van der Weyden die drei Magier mit dem Stern „in eines schönen Kindleins Gestalt“ (S. 28 u.). Das Mittelbild der Christgeburt im Stall von Bethlehem bezieht sich mit dem Motiv des nackt am Boden liegenden Kindes, vor dem Maria kniet, auf eine Vision der hl. Birgitta von Schweden in Bethlehem während der Pilgerfahrt ins Heilige Land, die sie 1372 – im Jahr vor ihrem Tod – unternommen hat. Zum Bildprogramm gehören Ochs und Esel (nach Jes 1,3), Joseph, Engel und der anbetende Stifter des Triptychons.
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