Sabine Hahn – Die Vision der Schöpfung
Die Vision der Schöpfung
Entwurf nach Hildegard von Bingen
56 x 62 / 1999
Entwurf nach Hildegard von Bingen
56 x 62 / 1999
Auf einem weithin offenen Silbergrund entfaltet sich in schwingendem Rhythmus von Form und Farbe die Bildaussage. Wir sehen von unten nach oben gestaffelt ein Halbrund und zwei Kreiselemente, das mittlere mit seinen sechs Innenkreisen dabei eingebunden in eine quer laufende, mit Sternen übersäte dunkle Zone.
Stark ins Auge fällt die den oberen Schmuckrahmen tangierende, rot durchflutete Goldscheibe mit ihrem blauweißen Zentrum. „Ich sah“, so Hildegard, „durchweht von geheimnisvollem Hauch, ein hell erleuchtendes Feuer, das unbegreiflich, unauslöschlich, ganz Leben war.” Aus dieser Feuerscheibe – sie symbolisiert die lebendige unfassbare Fülle Gottes – zuckt auf eine dunkle Luftkugel von gewaltiger Größe (mittlere Kreisscheibe mit ihrem dunklen Hintergrund – sie stellt das Weltall im Chaoszustand dar) eine weiß glühende Flamme (der schwertartige Silberstrahl in der Mitte) herab. Mehrmals zuckt die Flamme (das machtvolle Schöpfungswort Gottes), und jedes Mal sprüht ein Funke (einer der Schöpfungstage) hervor.
Sechs Schöpfungstage in sechs Kreisen:
Links oben der erste Schöpfungstag: Wie auch in altchristlicher Überlieferung bezeugt, sieht Hildegard das Es werde Licht – als Erschaffung der Engel.
Rechts oben der zweite Schöpfungstag: Das Firmament scheidet die Wasser – die Schöpferkraft als rotweiße kleine Kreisscheibe.
Links Mitte der dritte Schöpfungstag: Scheidung von Wasser und Land, die Pflanzen.
Rechts Mitte der vierte Schöpfungstag: Die Gestirne.
Links unten der fünfte Schöpfungstag: Tiere des Wassers und der Luft.
Rechts unten der sechste Schöpfungstag: Tiere des Feldes, der Mensch.
Den Menschen aber sehen wir außerhalb des sechsten Kreises direkt unter dem wirkmächtigen Schöpfungsstrahl: „Da hauchte die Flamme ihn an, und er, der Lehm, richtete sich auf als lebendiger Mensch von Fleisch und Blut.“ – „Nachdem dies geschehen war”, so Hildegard, „reichte das leuchtende Feuer (göttliches Kreisrund oben) durch die Flamme, die mit sanftem Wehen glühend in ihm brannte, dem Menschen (jetzt in Dreiviertelgestalt rechts oben aus dem Dunkel auftauchend) eine blendend weiße Blüte, die an der Flamme haftete, wie der Tau am Grashalm hängt. Der Mensch nahm ihren Duft mit der Nase wahr, aber er kostete sie nicht mit seinem Mund und berührte sie nicht mit seinen Händen. Das heißt, er sog zwar mit der Erkenntnis der Weisheit gleichsam wie mit einem geistigen Geruchssinn die Vorschrift des Gebotes ein, aber er nahm sie nicht mit dem Munde – mit der Kraft innersten Umfangens – in sich auf und führte sie nicht mit den Händen – durch die erfüllende Tat – zur beseligenden Auswirkung. Vielmehr wandte er sich ab und stürzte in undurchdringliche Finsternis, aus der er sich nicht erheben konnte. […]
Die Finsternis aber wuchs und wuchs und breitete sich aus. Das ist die Macht des Todes, die sich mit der Ausbreitung der Laster ständig mehrt in der Welt. Denn in der Mannigfaltigkeit der Leidenschaften verstrickt sich die Erkenntnis des Menschen immer tiefer in die Abscheulichkeit aufbrechender Sünden.
Doch nun gingen in der großen Dunkelheit (im dunklen Mittelband links) drei große Sterne in gemeinsamem Glanze auf, die „Leuchten“ des Alten Bundes: Abraham, Isaak, Jakob. Viele andere folgten ihnen, kleine und große, in lichter Helle funkelnd: die Propheten. Zuletzt erschien ein sehr großer Stern (rechts oben), der in wundersamem Leuchten strahlte: der größte unter den Propheten, Johannes der Täufer. Er kündete das wahre Wort, das heißt den wahren Sohn Gottes. Und dieser, der ersehnte Erlöser, ist nun als Flammen entsendender, weisender Lichtmensch dargestellt. Golden steigt er aus dem Gold des unteren Halbrundes auf, das mit seinem blauen Zentrum dem oberen Rund vergleichbar ist. Er ist der „Sohn der Morgenröte“, die als rote Linie an der Peripherie des unteren Kreissegmentes angedeutet ist. Seine Lichtflammen durchstoßen, erhellen die Finsternis. Sie treffen den blutroten alten Menschen, den gefallenen Adam, ihn aus der Knechtschaft der Finsternis, der Sünde, zu befreien, zu erlösen.
Quelle: “Ich hörte die Stimme und sah.” Einige Miniaturen aus Hildegard von Bingens SCIVIAS, mit Meditationen von Dietrich Steinwede.
Christophorus-Verlag, 1989.